Nicht von ungefähr gilt der Alpensteinbock als König der Alpen. Seine Anpassung an den alpinen Lebensraum ist perfekt, seine Kletterkünste sind legendär und seine stoische Ruhe mitten im Schneesturm bewundernswert. Steinböcke sind Meister im Energiesparen und vertrauen auf ihren Instinkt. Und trotzdem – dieses Symbol für Kraft, Ausdauer und Lebenswillen ist um ein Haar vollständig vom Menschen ausgerottet worden. Ohne den mutigen Einsatz von ein paar Naturfreunden und – so paradox es klingt – die Jagdleidenschaft der italienischen Könige, würden heute wohl kaum mehr Steinböcke unsere Berge beleben.

Der Steinbock ist auch eng mit der Geschichte des Schweizerischen Nationalparks verbunden. Nachstehend gehen wir der wechselvollen Geschichte des Steinbocks in den Alpen nach und zeigen, wie er vor 100 Jahren (1920) wieder den Weg in den damals gerade einmal sechs Jahre alten Nationalpark gefunden hat.

 

Der Steinbock in der Steinzeit

Mit archäologischen Funden in der Schweiz lässt sich nachweisen, dass der Steinbock zu Beginn der letzten Eiszeit vor über 20‘000 Jahren die Alpen besiedelte. Vom Ende der Eiszeit findet man Überreste von Steinböcken auch in Höhlen des Schweizerischen Mittellandes. Die Steinböcke folgten den sich zurückziehenden Gletschern in die Alpen. Aus der Bronzezeit finden sich in verschiedenen Wohnstätten Überreste von Steinböcken, so auch in den Cuvels dad Ova Spin am Rande des Schweizerischen Nationalparks (SNP). Bei Grabungen in den 1930er-Jahren entdeckten Archäologen u.a. einen Steinbockknochen, in dem eine Silex-Pfeilspitze steckte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Mensch schon damals Jagd auf den Steinbock machte. Bei Ötzi, der etwa zur gleichen Zeit lebte, fanden sich in seinem Magen/Darmtrakt ebenfalls Spuren von Steinbockfleisch. Aufgrund ihrer engen Bindung an Felsen und ihrer geringen Scheu waren Steinböcke in der damaligen Zeit eine relativ leichte Beute. Im Mittelalter waren sie schon selten und nur noch in den hintersten Winkeln der Alpen zu finden.

 

Am Rande der Ausrottung

In der Folge haben viele Faktoren beinahe zu seiner Ausrottung geführt. Die aufkommenden Feuerwaffen, ungünstige Witterungsbedingungen und die damit verbundenen Missernten trugen weiter zur intensiven Bejagung des Steinbocks bei. Zusätzlich drang der Mensch immer weiter in die Berggebiete vor. Wälder wurden gerodet und die Weideareale für die Haustiere weiteten sich mehr und mehr nach oben aus und engten dadurch den Lebensraum des Hochgebirgswildes entscheidend ein.

Auch der Aberglaube spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle. So diente der Steinbock als wandelnde Apotheke. Fast jedem Körperteil wurde eine heilende Wirkung zugesprochen. Neben Blut, Knochenmark und Milz wurden die Hörner und die Bezoarkugeln sowie das sogenannte Herzkreuz verwendet. Dieser verhärtete Knorpel der Herzklappen sollte seinen Träger unverwundbar machen …

Obwohl die Drei Bünde 1612 ein striktes Jagdverbot für den Steinbock verhängten, war dieser bereits um 1640 in Graubünden ausgerottet. 1809 erlegte man im Wallis den letzten Steinbock der Schweiz.

 

Königlicher Schutz eine Sekunde vor zwölf

Im Gebiet des Gran Paradiso, zwischen dem Aostatal und dem Piemont, überlebten schliesslich die letzten Alpensteinböcke. Bereits 1821 war auch dort ein Jagdverbot verhängt worden, das zwischenzeitlich aber widerrufen wurde. Vittorio Emanuele II, der König von Italien, sorgte schliesslich höchstpersönlich dafür, dass rigorose Schutzbestimmungen durch ein neu geschaffenes professionelles Wildhüterkorps durchgesetzt wurden. Diesem gehörten u.a. auch ehemalige Wilderer an, welche die Schliche ihrer Kollegen bestens kannten. Die Jagd auf den König der Berge sollte fortan nur noch dem König selbst erlaubt sein. So verdankt der Steinbock sein Überleben in den Alpen der königlichen Jagdleidenschaft. Der effiziente Schutz führte dazu, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts rund 3000 Steinböcke im königlichen Jagdgebiet aufhielten.

Vittorio Emanuele II vor dem Jagdzelt 1869 (Quelle: Von Königen und Wilderern)

1922 wurde hier schliesslich der Nationalpark Gran Paradiso gegründet.

 

Geheime Machenschaften …

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Bestrebungen, Steinböcke in weiteren Gebieten des Alpenraums wieder anzusiedeln. Erste Ansiedlungsversuche mit Steinbock-Hausziegen-Hybriden scheiterten.

Im 1875 verabschiedeten ersten schweizerischen Jagdgesetz war die angestrebte Besiedlung bestimmter Jagdbanngebiete durch den Steinbock explizit vermerkt. Anlässlich der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Simplontunnels am 16. Mai 1906 sollte Bundespräsident Ludwig Forrer die Gelegenheit beim Schopf packen und den ebenfalls anwesenden italienischen König Vittorio Emanuele III um die Lieferung von ein paar Steinböcken bitten. Ob die Anfrage tatsächlich erfolgte, steht in den Sternen. Fakt ist, dass keine Steinbocklieferung erfolgte. Also mussten die Tiere durch eine List beschafft werden.

Per Brief nahm der St. Galler Hotelier und Steinbockfreund Robert Mader Kontakt zu Joseph Berard aus Aymavilles auf. Berard stammte aus einer legendären Wilderer-Dynastie aus dem Aostatal. Bereits am 22. Juni 1906 konnte er eine Kitzgeiss und einen Kitzbock, am 30. Juli eine weitere Kitzgeiss nach Martigny liefern. Die Tiere wurden umgehend in den Wildpark Peter und Paul nach St. Gallen transportiert, wo sie vorerst mit Schoppenflaschen, später mit Bergheu aufgezogen wurden. Von 1906 bis 1933 gelangten so insgesamt 59 geschmuggelte Kitze aus dem Aostatal nach St. Gallen.

Joseph Berard (Quelle: Von Königen und Wilderern)

Ab 1915 wurden auch Steinböcke in den Alpenwildpark Harder bei Interlaken gebracht.

 

Hoher Besuch aus Bern

Wenige Monate nach Ankunft der ersten Steinböcke aus Italien stattete der Eidgenössische Oberforstinspektor Johann Wilhelm Coaz dem Wildpark Peter und Paul einen ersten Besuch ab. Coaz, der neben dem Forstwesen auch für die Jagd und Fischerei zuständig war, zeigte an der Wiederansiedlung des Steinbocks ebenfalls grosses Interesse. In seinem Bericht, den er 1905 zusammen mit Carl Schröter über die Val S-charl verfasst hatte, schrieb er, dass sich dieses Gebiet vortrefflich für einen Schweizerischen Nationalpark, und «… vielleicht auch für die Wiedereinbürgerung des Steinbocks eigenen würde». Zur selben Zeit, im Herbst 1906, als Coaz dem Tierpark einen Besuch abstattete, wurde an der ersten Sitzung der Schweizerischen Naturschutzkommission auch erstmals die Schaffung eines Nationalparks auf‘s Tapet gebracht …

Coaz versprach dem Wildpark in St. Gallen, dass er für das Zuchtprojekt möglicherwiese einen Bundesbeitrag erwirken könne, was in der Folge auch tatsächlich geschah.

 

Erste Erfolge und Rückschläge

Bereits im Juni 1909 wurden in St. Gallen die ersten Kitze geboren und zwei Jahre später konnten im Jagdbanngebiet Graue Hörner im Weisstannental die ersten 5 Tiere ausgewildert werden. Da eine der Geissen trächtig war, kam kurz darauf, am 18. Juni 1911 das erste, seit seiner Ausrottung in der Schweiz, in Freiheit geborene Steinbockkitz zur Welt.

Tierwärter Ribi und seine Frau «schöppeln» junge Steinkitze im Tierpark Peter und Paul (Quelle: Von Königen und Wilderern)

Am 20. Juni 1914 kehrte das Bündner Wappentier im Rahmen einer nächsten Aussetzung im Banngebiet Ela in den Kanton Graubünden zurück. 42 Tage später wurde der erste Nationalpark der Schweiz gegründet. Bei beiden Projekten zog der ebenfalls 1914 im Alter von 92 Jahren pensionierte Oberforstinspektor Coaz die Fäden. Trotz fünf Aussetzungen im Ela-Gebiet konnten dort ab 1928 keine Steinböcke mehr beobachtet werden und der Ansiedlungsversuch endete mit einem Misserfolg.

 

Steinböcke im jungen SNP

Als nächstes rückte nun der neu gegründete SNP in den Fokus. Bereits im sogenannten Cluozzavertrag, der am 1. Dezember 1909 von den einzelnen Partnern unterzeichnet worden war, waren spezielle Ausführungen zu einer eventuellen Ansiedlung von Steinböcken vermerkt. Als der SNP 1920 um das Gebiet Falcun erweitert werden sollte, bedingte sich die Gemeinde Zernez das Recht um Wasserkraftnutzung des Spöls aus. Just in diesem, dem SNP neu angegliederten Gebiet, fand am 20. Juni 1920 die erste Steinbockaussetzung im SNP statt. Fast auf den Tag genau 14 Jahre nachdem die ersten Kitze in die Schweiz geschmuggelt worden waren.

 

Mit der RhB nach Zernez

Eigentlich war vorgesehen, die auszusetzenden Tiere aus dem Wildpark Peter und Paul in St. Gallen zu beziehen. Da dort aber nicht genügend Steinwild verfügbar war, steuerte der Wildpark Harder vier Tiere aus seinem Bestand dazu bei. Am 19. Juni trafen sieben Kisten mit Steinböcken befördert von der RhB in Zernez ein. Von der Blasmusik und einer grossen Menschenmenge wurden sie am Bahnhof empfangen. Vorerst mussten sie jedoch noch eine Nacht im Güterschuppen verbringen. Am nächsten Morgen ging’s mit dem Pferdefuhrwerk weiter in Richtung Ova Spin. Danach war die Kraft der Träger gefragt. Begleitet von rund 150 Menschen bewegte sich der Zug in Richtung Punt Praspöl hinunter, die den damals noch wilden Spöl überquerte. Parkwächter Langen hatte eigens dafür einen Pfad durch die dichten Legföhren gebahnt. Der Aufstieg auf der anderen Seite gestaltete sich dann ziemlich mühsam. Nach einer halben Stunde hiess es «Deckel auf!» und drei Böcke und vier Geissen wurden in die Freiheit entlassen. Das anschliessende, mit zahlreichen Reden garnierte Picknick, entwickelte sich zu einem wahren Volksfest, das Hoffnung auf eine rosige Zukunft nicht nur für die Steinböcke, sondern auch für die weitere Entwicklung des SNP aufkommen liess.

 

 

SNP zum Zweiten, Dritten, … und Sechsten

Die noch junge Kolonie erlebte bereits nach einem Jahr einen Rückschlag. Zwei Böcke und zwei Geissen zogen in Richtung Livigno: Die Böcke wurden gewildert, die Geissen siedelten sich in der Folge am Piz Albris an. Sie gaben den Anstoss, die Kolonie Albris zu gründen. In den Jahren 1923, 1924 und 1926 erfolgten weitere Aussetzungen. Diesmal transportierte man die Tiere allerdings in die Val Cluozza.

 

 

Nach Schaffung des Jagdbanngebietes Carolina war der Weg frei, in der Val Tantermozza weitere Steinböcke anzusiedeln. In den Jahren 1933 und 1934 wurden hier insgesamt 19 Tiere freigelassen. Die Tiere in der Val Tantermozza besiedelten Anfang der 1950er Jahre die Val Trupchun, fanden sie hier doch ideale Lebensbedingungen vor. Von 1920 bis 1934 wurden insgesamt 34 Steinböcke im SNP ausgewildert.

 

 

In der Folge entwickelte sich der Bestand sehr rasch. Um ein Abwandern der Steinböcke nach Italien zu verhindern und um sie vor der Wilderei zu schützen, wurden künstliche Salzlecken angelegt. Heute sind diese Salzlecken entfernt und die angrenzende Val Saliente gehört zum Nationalpark Stilfserjoch.

Eine weitere Koloniegründung im Gebiet Il Fuorn gelang nicht wunschgemäss. Die Tiere siedelten sich jedoch in den beiden Gebieten Sesvenna und Macun an, das damals noch nicht zum SNP gehörte. Einzelne Tiere können immer noch im Gebiet Il Fuorn beobachtet werden.

 

Situation heute

Die Rettung des Steinbocks ist eine weltweit beispiellose Erfolgsgeschichte. Durch das beherzte Eingreifen einiger Visionäre konnte eine Tierart quasi eine Sekunde vor zwölf vor dem Aussterben bewahrt werden.

Heute leben im SNP rund 300 Steinböcke, alpenweit dürften es ca. 40‘000 Tiere sein. Alle stammen sie von der Restpopulation im Jagdgebiet der italienischen Könige am Gran Paradiso ab. Das bedeutet, dass die genetischen Vielfalt bei den heutigen Steinböcken gering ist, da sie mehrere genetischen Flaschenhälse durchlaufen haben: Von der Restpopulation (1. Flaschenhals) wurden durch die Wilderer einige Tiere entnommen und in den Wildpark Peter und Paul in St. Gallen gebracht (2. Flaschenhals). Die dort eingetroffenen Tiere vermehrten sich. Für die Auswilderung wurden erneut einige Tiere entnommen und z.B. im SNP ausgewildert (3. Flaschenhals). Die ausgewilderten Tiere wanderten in z.T. unterschiedliche Gebiete ab, wo sie sich untereinander vermehrten (4. Flaschenhals). Die Folgen dieser hohen Inzuchtrate sind ein geringeres Körpergewicht, eine verminderte Hornlänge und ein erhöhtes Risiko für einen Parasitenbefall.

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